Freitag, 24. September 2010

W216VII: Schweden zwischen Uppsala und Syrien

Assyriska FF Södertälje 2:0 Syrianska FC (Södertälje)
Sonntag 19. September 2010 – Anstoß 18.00
Superettan (2. schwedische Profifußballliga)
Ergebnis: 2:0 nach 97 Min. (46/51) – Halbzeit 1:0
Tore: 1:0 24. Göran Marklund, 2:0 86. Andreas Haddad
Verwarnungen: Magnus Bahne, Fredrik Samuelson (Assyriska); Ivan Ristič, Denis Velič, Dwayne Miller, Dinko Felic (Syrianska)
Platzverweise: keine
Spielort: Södertälje fotbollsarena (= Jalla-Vallen; Kap. 8.000, davon 4.200 Sitzplätze)
Zuschauer: 3.423 (davon ca. 1.500 Gästefans)
Unterhaltungswert: 7,0/10 (Hartes und spannendes Spiel mit toller Stimmung aber wenig verdientem Sieger)
Sightseeing: 9,0/10 (Uppsala ist eine der sehenswertesten Städte Skandinaviens, in Södertälje erlebt man dann die Kultur der syrischen Christenheit)
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Photos and English version:
ASSYRISKA 2-0 SYRIANSKA (THE ASSYRIAN - SYRIAC DERBY)
Södertälje (Centre of Assyrian community in Sweden)
UPPSALA – (OLD TOWN, BOTANICAL GARDEN)

Videos:
Assyriska Support During Match
Pitch Invasion Assyriska Fans
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Als erster Programmpunkt stand Uppsala auf dem Zettel. Dieser Ort mit dem lustigen Namen ist durch seine traditionsreiche und gute Universität bekannt. Zudem ist Uppsala seit etwa 2.000 Jahren besiedelt, wovon im äußersten Norden der Stadt auch Hügelgräber enormer Größe zeugen. Neben den Hügelgräbern befinden sich ein mittelalterlicher Bauernhof und eine sehr schöne Kirche, die ebenfalls bis ins Mittelalter datiert. Auch bei dieser Kirche steht der Glockenstuhl als Holzbau neben dem steinernen Kirchenschiff.

Auf dem Weg in die Innenstadt fällt eine Moschee mit türkisgrüner Kuppel und schlankem, kleinen Minarett auf. Der Dom bildet den einen Hauptanziehungspunkt der Innenstadt und hat einen 118 Meter hohen Doppelturm zu bieten. Dadurch ist der Dom das höchste Sakralgebäude Skandinaviens. Das Unigebäude gegenüber hat eine spektakuläre Kuppel. Das Schloss ist in einem etwas dämlichen Farbton gestrichen, aber ein sehr gut erhaltener Barocker Festungsbau mit vier enormen Wehrtürmen. Einige der Kanonen sind auf den unterhalb der langen Schlosstreppe gelegenen Barockgarten des botanischen Gartens, auch als Linné-Garten nach dem berühmten Botaniker genannt und mit 355 Jahren Alter der älteste botanische Garten Schwedens, gerichtet. Im Barockgarten findet man die üblichen Buchsbaumformationen um gepflegte Rasenflächen und den ein oder anderen Baum zwischen Palme und Pinie. Im Teil links von der Straße gibt es neben alten oder kuriosen Gemüsearten (zweifarbige Gurken, riesiger Rosenkohl usw.) auch Seidelbast, schwarze Hagebutten und ein tropisches Gewächshaus. Das kostet skandinavientypisch 4€ Eintritt – typisch deshalb, da man Sehenswürdigkeiten wie Burgen, aber auch botanische Gärten oft zu 85% kostenlos besichtigen kann, bis man in den kleinen Kern (15%) kommt, wo unverhältnismäßig viel verlangt wird – aber da es noch geschlossen war, gingen wir weiter, schauten uns noch ein paar historische Gebäude in der Innenstadt an und fuhren dann nach Södertälje weiter.
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Södertälje ist eine Industriestadt mit drei oder vier sehenswerten Gebäuden, doch für einen am Nahen Osten oder dem Orientchristentum Interessierten ein interessanter Ort. Die Industrie (Scania, AstraZeneca u.a.) lockte nämlich Assyrer, Araber und andere aus diesem Raum an, integrierte sie in die Arbeit ebenso wie mit verpflichtenden kostenlosen Sprachkursen in das schwedische Leben, und bildet damit ein positives Beispiel für gelungene Integration von Angehörigen einer fremden Kultur in einem europäischen Einwanderungsland.
Von den zwei sehr gegensätzlich gestalteten Kirchen gehört die eine zur syrischen Gemeinde. Die ältere Kirche im Zentrum fällt vor allem wegen ihrer unheimlich hohen Anzahl von Schädel- und Knochendarstellungen – v.a. über Türen und Fenstern – auf. Die neue syrische Kirche – der Bischofssitz der gesamt-skandinavischen Gemeinde der Assyrer, die sich aus Arbeitssuchenden und politischen Flüchtlingen aus Syrien und dem Libanon, vor religiöser oder politischer Verfolgung aus der Türkei Geflohenen und - in besonders großer Zahl - dem Krieg im Irak Entkommenen zusammensetzt – ist ein moderner, weißer Bau, der Innen schön ausgestaltet ist mit Fresken und einem hohen Altarraum. Der Hausmeister, ein syrischer Chemiker, führt einen gerne durch und unterhält sich mit den Gästen. Nachdem ich ihm auf Nachfrage von meinem Studium erzählte, gab er gleich mal für die Arabischkenntnisse Kaffe und Puddingbrezeln aus. Nach einer ganzen Weile verabschiedeten wir uns gen Stadtzentrum, wo einen immer klarer wurde, dass der Anteil von Nicht-Schweden an der Bevölkerung bei 40% (davon sind wiederum 90% Assyrer) liegt – selbst die, die nicht gleich als Assyrer oder Araber erkennbar waren, stellten sich im Gespräch als Russen oder Ukrainer heraus. Stilecht für diese Stadt aßen wir in einem arabischen Imbiss. Der war richtig gut frequentiert und hatte gutes Essen im Angebot. Bei den Besuchern handelte es sich um eine Mischung aus Schweden und Afrikanern, Japanern und Arabern: vom dicken schwedischen Bauarbeiter in verschlissener Arbeitskleidung mit greller Warnweste bis zur hübschen, in engen Ledersachen und mit hohen Schuhen bestückten Syrerin war alles mögliche dabei.
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Die Eintrittskarten für das Spiel der zweiten Liga – dem Duell schlechthin in Södertälje – hatten wir schon vor der Kirchenbesichtigung besorgt. Wahnsinn, dass da 20 bis 25€ durch Toppzuschlag und Spieltags- (statt Vorveraufs-)gebühr verlangt wurden! So eine asoziale Auspreisung ist selbst in Schweden selten! Dabei haben die Leute, ob sie nun gut ausgebildete Facharbeiter oder einfachere Kräfte in der Industrie Södertäljes sind, hier nicht so viel Geld zum Ausgeben. Wir begaben uns nach der für Schweden sehr strengen, aber nicht übertriebenen Kontrolle zu den Syrianska Fans auf Stehplätze auf der steinernen Gegentribüne. Erste Reihe, rechts von uns die zusammen gezimmerten Holztribünen auf Strafraumhöhe bzw. hinter dem Tor, links von uns dasselbe Bild und gegenüber die recht eindrucksvolle Sitztribüne; überdacht mit roten und gelben Schalensitzen in 30 Reihen.

Auf der Haupttribüne breitete sich die Fans von Assyriska, dem 1974 von assyrischen Einwanderern gegründeten Club, der 2003 im Pokalfinale an Elfsborg scheiterte und 2005 ein Jahr lang 1. Liga spielte, aus. Der Rest des Stadions gehörte dem nominell Gast, dem FC Syrianska, der sich als Auswahl der Syrer versteht. Übrigens ist das „Syrer“ ein total dummer Begriff im Deutschen, da man das mit den Einwohnern Syriens vermischt, wobei die Syrer, die hier gemeint sind, auch aus anderen Ländern wie Irak oder Libanon stammen und deshalb auf Englisch auch nicht als „Syrians“ sondern als „Syriacs“ bezeichnet werden – deswegen schreibe ich ab jetzt auch „Syriaken“.

Das Stadion ist eine syrische Enklave in Schweden: da dröhnt arabische Musik durch die Lautsprecher und ein großer Teil der Anfeuerungen wird in Arabisch (also dem syrisch-arabischen Dialekt, in dem ich mich auch in der Kirche unterhalten habe; der Dialekt ist in den Abweichungen von der Hochsprache mit Sächsisch vergleichbar) oder Syrisch (einer aramäischen Sprache, die zwar mit Arabisch verwandt ist, aber für einen Araber wie Niederländisch für einen Deutschen klingt und deshalb schlecht zu verstehen ist) geäußert. Die Assyriska-Fans, deren 1999 gegründete Ultragruppe „Zelge Boyz“ mit rot brennenden Bengalos und laut krachenden Böllern zum Stadion zogen, waren größtenteils in weiß mit blauen und roten Akzenten – der Farbe der assyrischen Flagge – gekleidet. Der Syrianska-Anhang um uns herum, die durch die „Gefe Fans“ – 2002 gegründet und auch Ultra orientiert sowie mit Feuerwerk (Handfackeln und Batteriefeuerwerk) hantierend – trug rot mit goldenem Aramäischen Adler.

Eigentlich treten die Vertreter beider Gruppierungen – also der Assyrer und Syriaken – gemeinsam für gleiche Ziele ein und oftmals wird gar nicht zwischen Assyrern und Syriaken unterschieden. Aber die beiden Vereine kämpfen um die Vormachtsstellung in Södertälje. Ohnehin ist es Wahnsinn, dass sich gleich zwei Migrantenvereine, deren Kader aber mittlerweile nur zu maximal 30% aus Assyrern/ Syriaken bestehen und sonst aus Schweden ohne Migrationshintergrund, Schwarzafrikanern, Südosteuropäern usw. zusammengesetzt sind, in der zweiten Profiliga aufhalten, aber jetzt hat zumindest Syrianska sogar die Chance, das Abenteuer Allsvenskan zu wagen, das Assyriska mal ein Jahr lang durchlebte. Denn Syrianska war vor dem Spiel Zweiter, was den Direktaufstieg (der Dritte muss in die Relegation gegen den 12. der Allsvenskan) und Assyriska Fünfter (sechs Punkte hinter dem 3. und 2. bzw. 12 hinter dem 1.).

Zurück zum Kampf um die Vormachtsstellung: der spielte sich nämlich auf den Rängen und auf dem Feld ab. Zum Einlaufen Kreppbandrollenwürfe, Schwenkfahnen und Handfahnenmeer in rot und gelb (die Farben der Syriaken/ Aramäer) bei Syrianska und eine riesige assyrische Überziehflagge mit den üblichen Symbolen (der assyrische Reichsgott Ashshur und einem Zeichen für den assyrischen Sonnengott Shamash) und Schwenkfahnen bei Assyriska, dann viele rhythmische Anfeuerungen kombiniert mit Pöbeleien und Mittelfingergesten. Im Spiel wurde munter geholzt und es spielte keine Rolle, ob der Spieler nun Assyrer, Aramäer, Kroate oder Senegalese war: die gaben alle sehr viel. Leider war das Spiel aber dadurch hektisch und fehlerhaft. Syrianska war die ganze Zeit über besser, doch hatte eine derart grauenhafte Chancenverwertung, dass sich schnell abzeichnete, dass sie nicht treffen würden. Stattdessen legte Göran Marklund für Assyriska los. Nach der Pause sah das leider auch nicht anders aus. Assyriska konterte die unfähigen Angriffe Syrianskas aus. Das 2:0 fiel kurz vor Schluss durch Andreas Haddad.

Bei Syrianska brach die Stimmung etwas ein und solche Leute wie der Businesstyp im Sakko mit seiner Frau, die wie eine libanesische Popsängerin aufgestylt war, verließen jetzt enttäuscht das Stadion. Die jungen Ultras in ihrer Einheitskleidung pöbelten noch ganz gut rum. Assyriska feierte natürlich überschwänglich bis zur letzte Sekunde des Spiels. Nach Abpfiff stürmten auch einige Ultras und andere Fans den Platz um ihren Spielern näher zu sein. Zu den Ultras beider Fanlager zählen übrigens auch ein paar Frauen, die ohnehin bei beiden Vereinen eher stärker vertreten waren als bei den anderen schwedischen Vereinen mit Ausnahme von Hammarby und Djurgården. Ungeachtet dessen, dass Fußball in Deutschland als hippes Modeprodukt „in“ ist und deshalb auch viele pubertierende Mädchen und ahnungslose Frauen, die sich nie mit dem Sport beschäftigt haben, den winzigen harten Kern der sachkundigen und erfahrenen Stadiongängerinnen ergänzt, schauen in Skandinavien so wie so mehr Frauen als in Deutschland beim Fußball zu bzw. spielen selber. In Syrien ist aber auch auffällig, dass der höchste Prozentsatz von weiblichen Zuschauern beim generell sehr gut frequentierten Erstligisten Al-Jazeera Al-Hasakeh erzielt wird. Und wer macht da 50% der Spieler und Fans aus? Richtig: Assyrer!

Vernünftig wie die Polizei in Schweden ist, sorgte sie beim Platzsturm nur dafür, dass keiner von Assyriska übers Feld rennt und die Gegner angeht: hier wurde niemand für den Platzsturm verhaftet und es wird auch niemand Stadionverbot dafür kriegen. In Deutschland ist das leider selbst weit nach einem Spiel strafbar. Die Polizei übertrieb es danach aber etwas: das waren ja schon fast deutsches Gebaren, sich mit Hundert Ordnern und Polizisten vor der Syrianska-Tribüne zu positionieren und dann auch noch den Verkehr mit der Fantrennung dienenden Absperrungen zu behindern.

Alles in Allem ist dieses Derby von Södertälje ein echt tolles Erlebnis gewesen, auch wenn die Zuschauerzahl ein Minusrekord (hing wohl mit der Preiserhöhung zusammen) war. Diese Begegnung kann ich jedem Groundhopper nur empfehlen, wobei zum vollen Programm auch vor dem Spiel der Besuch der Bischofskirche und das Essen in einem der typischen Imbisse gehört. Wer ohne sich zu den Besonderheiten der beiden Vereine informiert zu haben zum Derby geht, ist ein unterbelichteter Banause!
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Statistik:
Ground Nr. 474 (ein neuer Ground; diese Saison: 24 neue)
Sportveranstaltung Nr. 1.068 (diese Saison: 30)
Tageskilometer: 240 (Auto)
Saisonkilometer: 8.000 (5.760 Auto/ 1.120 Fahrrad/ 740 Schiff, Fähre/ 380 Bahn, Bus, Tram/ 0 Flugzeug)
Anzahl der Fußballspiele seit dem letzten 0-0: 57
Anzahl der Wochen, seit der letzten Woche ohne eine einzige Sportveranstaltung (31.7.-6.8. 2006): 216

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